COVID19 und Multiple Sklerose (MS)

Univ.-Prof. Dr.
Thomas Berger

Assoz.Prof. Priv.-Doz. Dr. Christian Enzinger

Die MS-Koordinatoren der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) haben angesichts der derzeitigen SARS-CoV-2-Pandemie aktuelle Informationen und Empfehlungen zum MS-Management zusammengefasst.

In Anbetracht der nunmehr 2 Jahre anhaltenden SARS-CoV-2 Pandemie möchten wir Ihnen eine kurze Zusammenfassung und Adaptierung bisheriger Informationen, sowie aktuelle Entwicklungen zu Multipler Sklerose (MS) und SARS-CoV-2/COVID19 bieten und Ihnen damit Handlungsempfehlungen gegenüber Ihren MS Patient*innen offerieren.

 

Aufruf

In diesem Zusammenhang möchten wir auch unsere dringende Bitte wiederholen, uns zu MS-PatientInnen, die an COVID-19 erkrankt sind/waren, zu informieren (thomas.berger@meduniwien.ac.at oder chris.enzinger@medunigraz.at), weil wir damit insbesondere mit unseren Kolleginnen und Kollegen in Italien und Spanien, die situationsbedingt bereits wesentliche diesbezügliche Erfahrungen gewinnen konnten, durch wachsende Fallzahlen entsprechende Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen für Österreich ableiten können.

Multiple Sklerose und Risiko für eine SARS-CoV-2 Infektion bzw. schweren COVID19 Krankheitsverlauf 

  • MS ist grundsätzlich mit keinem erhöhten Infektionsrisiko verbunden.
  • MS Patient*innen gehören daher per se nicht zu einer Risikogruppe für SARS-CoV-2 Infektion/schweren COVID19 Krankheitsverlauf.
  • Daher gelten für MS Patient*innen ebenso wie für die Allgemeinbevölkerung die allgemein gültigen Schutz- und Vorsichtsnahmen zur Vermeidung einer COVID19 Erkrankung.
  • MS Patient*innen können aber aufgrund individueller Risikofaktoren zu Personengruppen mit erhöhtem Infektionsrisiko bzw. Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs gehören à siehe Tabelle 1.

Empfehlungen zu krankheitsmodifizierenden Therapien (DMT) im Kontext der SARS-COV-2 Pandemie

  • Unverändert gilt das „Never change a winning team“ Konzept für alle MS Patient*innen, die unter aktueller DMT einen stabilen Krankheits- und Therapieverlauf haben, und es soll die aktuelle DMT in unveränderter Dosis, Frequenz und üblichem Monitoring beibehalten werden.
  • Eine individuelle Risikoabschätzung zu Beginn oder Wechsel (inklusive „Eskalation“) einer Therapie ist wie üblicherweise geboten, aber unter speziellem Bedacht der gegenwärtigen Situation wird eine zusätzliche Berücksichtigung folgender Aspekte empfohlen:

– Einbeziehung potenzieller Risikofaktoren einer Patientin/eines Patienten (à siehe Tabelle 1).

– Einbeziehung eines individuell erhöhten (kurzfristigen) Risikos einer Infektion durch die geplante DMT.

  • Aufgrund der aktuellen Datenlage , dass für DMT kein, für anti-CD20 monoklonale Antikörper Therapien (CD20mAK) möglicherweise ein geringes Risiko für einen schweren COVID19 Krankheitsverlauf besteht, wurden die bestehenden Empfehlungen ( à siehe Tabelle 2) aktualisiert.

Aktualisierte Informationen und Empfehlungen zur SARS-COV-2 Impfung für MS Patient*innen

  • Die Diagnose MS stellt prinzipiell keine Kontraindikation gegen Impfungen dar.
  • Impfungen mit Totimpfstoffen können uneingeschränkt bei MS Patient*innen durchgeführt werden.
  • Die in Europa zugelassenen mRNA bzw. Vektor-basierten Impfungen gegen SARS-CoV-2 sind konzeptuell Totimpfstoffe. => eine Impfung (inklusive 3. Teilimpfung) gegen SARS-CoV-2 mit einem der gegenwärtig zugelassenen bzw. in Österreich verfügbaren Impfstoffen ist daher bei MS Patient*innen möglich und wird empfohlen.
  • Die aktuelle Datenlage zeigt, dass nach Impfungen gegen SARS-CoV-2 weder das Risiko zur Auslösung von MS noch für eine Krankheitsaktivierung (Schübe bzw. Krankheitsprogression) bei bestehender Diagnose MS überzufällig erhöht ist.
  • Jede Impfung, so auch eine SARS-CoV2 Impfung, kann aufgrund ihres (erwünschten) immunologischen Wirkmechanismus eine Impfreaktion im Sinne von grippeähnlichen Symptomen (Fieber, Muskelschmerzen, Abgeschlagenheit, u.Ä.) für 24-48h verursachen. Bei MS Patient*innen kann eine solche 2 Impfreaktion daher zu einem Uhthoff’schen Phänomen („Pseudoschub“) führen. Ein entsprechendes vorausschauendes Management, beispielsweise mit nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR), sollte demnach erwogen werden.
  • Grundsätzlich sollte vor dem Beginn einer immunsuppressiven DMT (Alemtuzumab, CD20mAK [Ocrelizumab, Ofatumumab, Rituximab], Cladribin, S1PR Modulatoren [Fingolimod, Ponsesimod, Ozanimod]) der individuelle Impfstatus aktualisiert werden und (eine) notwendige Impfung(en), so auch gegen SARS-CoV-2, zumindest 6 Wochen vor Beginn der DMT durchgeführt werden.
  • Wenn eine Impfung, so auch eine SARS-CoV2 Impfung, unter laufender DMT erfolgt, dann sind folgende Überlegungen/Vorgehensweisen zu beachten:

     a) Zur Wirksamkeit von Impfungen (gemessen anhand humoraler, also Antikörper-Antworten) unter laufender DMT gibt es eine zunehmende, national und international kongruente Datenlage (à siehe Tabelle 3).

     b) S1PR Modulatoren und CD20mAK zeigen, wie schon bei anderen Impfstudien, dass die humorale Immunantworten vermindert bzw. fehlend sein können. Dies ist bei CD20mAK deutlich abhängig vom Zeitpunkt der letzten Therapieverabreichung bzw. vom Zeitpunkt der Rekonstitution peripherer BZellen nach therapeutischer Depletion. Impfungen mit (konzeptuellen) Totimpfstoffen, so auch eine SARS-CoV2 Impfung, sollten daher frühestens 4 Monate nach der letzten Gabe der Therapie durchgeführt werden.

     c) Aktuelle Publikationen (beispielhaft: Apostolidis et al, Nature Medicine 2021; Kommentar von Berger & Kornek, Nature Review Neurology 2021) haben gezeigt, dass bei Patient*innen, die aufgrund einer B-Zell depletierenden Therapie eine verminderte/fehlende Antikörperreaktion nach SARS-CoV-2 Impfung zeigen, spezifische Vakkzin-bedingte T-Zellreaktionen hingegen komplementär deutlich verstärkt sind, woraus zu schlussfolgern ist, dass diese Patient*innen ebenso antivirale Immunität nach Impfung haben.

Empfehlungen zur möglicherweise ab Februar 2022 geltenden allgemeinen Impfpflicht gegen SARS-COV-2 in Bezug auf Patient*innen mit MS

  • Bei stabilen chronisch neurologischen Erkrankungen, so auch MS, besteht aus dem oben Gesagten keine Kontraindikation gegen eine COVID-19 Impfung (und somit auch kein wissenschaftlich begründeter Grund für eine vorübergehende oder dauerhafte Zurückstellung einer SARS-CoV-2 Impfung bei MS Patient*innen).
  • Bei akuten MS Krankheitsschüben, empfehlen wir – gemäß den Vorgaben im Aufklärungsbogen zur SARSCoV-2 Impfung – die Genesung (= komplette oder inkomplette Remission des Krankheitsschubes, in der Regel nach 4-6 Wochen) abzuwarten. Die Dauer der Postponierung einer SARS-CoV-2 Impfung empfehlen wir im Patient*innenbrief des versorgenden MS Zentrums zu dokumentieren.
  • Darüber hinausgehende Vorgaben und Empfehlungen müssen bei Inkrafttreten des Gesetzes dem entsprechenden Gesetzestext, sowie den Empfehlungen des Nationalen Impfgremiums (https://www.sozialministerium.at/Themen/Gesundheit/Impfen/Nationales-Impfgremium.html) zur weiteren Berücksichtigung entnommen werden. 

Weiterführende Informationen:

Neueste Entwicklung

Erste Zahlen aus Italien scheinen darauf hinzuweisen, dass schwere Covid-19-Verläufe im Kontext einer MS-Erkrankung nicht mit erhöhter Häufigkeit auftreten. Eine rezente Veröffentlichung der italienischen Studiengruppe zu Covid-19-Infektionen bei MS (Sormani MP et al, Lancet Neurol 2020, online publiziert am 29. April 2020) analysierte Daten von 232 MS-PatientInnen mit Symptomen und Anzeichen einer Covid-19-Infektion (mit und ohne PCR-Bestätigung). Davon hatten 223 (96 %) einen milden, 4 (2 %) einen schweren und 6 (3 %) einen kritischen Verlauf von Covid-19, wobei in letztgenannter Gruppe fünf verstarben. Mit aller Vorsicht scheint die Anzahl der schweren Verläufe/der Sterblichkeit durch eine MS-Erkrankung in dieser italienischen Beobachtungsserie nicht erhöht. Allerdings können diese Zahlen nur eingeschränkt mit anderen Ländern verglichen werden, da der Einsatz von Tests zum Nachweis von Covid-19-Infektionen erheblich unterschiedlich gehandhabt wird und es gilt, weiterführende Studien abzuwarten.