COVID-19-Pandemie: Neuroonkologisches Management von Gliompatient*innen

Dr. Katrin
Blauensteiner

Klinische Abteilung für Neurologie, Universitätsklinik St Pölten, KLPU

Dr. Bernadette
Calabek-Wohinz

Klinische Abteilung für Neurologie, Universitätsklinik St Pölten, KLPU

Lecture Board für die ARGE NeuroOnkologie der ÖGN: Prim. Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dr. Stefan Oberndorfer, FEAN, St Pölten; Priv.-Doz. Dr. Martha Nowosielski, Innsbruck; OA Priv.-Doz. Dr. Markus Hutterer, Linz

Die COVID-19-Pandemie stellt uns weltweit vor ungeahnte Herausforderungen. Insbesondere im Gesundheitsbereich muss eine feine Abwägung erfolgen, um Ressourcen zu schonen, das Gesundheitspersonal zu schützen und dennoch eine möglichst gute Patient*innenbetreuung zu gewährleisten.

Patient*innen mit einem Hirntumor sind häufig als Folge der neuroonkologischen Therapie immunsupprimiert. Dadurch sind sie im Falle einer SARS-CoV-2-Infektion gefährdet, einen schweren Krankheitsverlauf zu erleiden.

Auf der einen Seite ist eine individuelle Abwägung der Antitumortherapie hinsichtlich der Prognose und der Wahrscheinlichkeit eines Therapieansprechens versus dem Expositionsrisiko erforderlich.
Auf der anderen Seite führt bei neuroonkologischen Patient*innen, bei denen der Erhalt der Lebensqualität ganz besonders im Vordergrund steht, ein Aussetzen der Antitumortherapie und das fehlende persönliche Gespräch zu einer erheblichen Verunsicherung.

Vor kurzem erschien ein Konsensus-Statement von weltweit führenden Neuroonkolog*innen mit Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Gliompatient*innen in Zeiten der COVID-19-Pandemie.1

Diese Handlungsempfehlungen nehmen zu folgenden Punkten Stellung:
Tumorboard, operative Entfernung des Tumors, Strahlentherapie und Chemotherapie.

Tumorboard
In der Neuroonkologie erfordern sowohl die Diagnosestellung als auch die Therapieplanung ein interdisziplinäres Vorgehen mit der entsprechenden Fachexpertise, wie es zum Beispiel durch Tumorboards ermöglicht wird. Während einer Pandemie sind solche Meetings und Abläufe allerdings oftmals nur erschwert durchführbar (z. B. begrenzter Raum mit mehreren Personen; ausreichend Platz, um entsprechende Abstände zwischen den Personen zu erreichen; längere Dauer des Tumorboard). Hier empfiehlt sich ein möglichst rascher Wechsel zu einem Videokonferenzsystem, um weiterhin eine interdisziplinäre Diskussion und somit einen wichtigen Faktor zur Qualitätssicherung einer neuroonkologischen Therapie zu gewährleisten.

Tumorresektion
Grundsätzlich sind eine möglichst rasche und maximale Tumorresektion sowie eine Histologiegewinnung maßgeblich für die Diagnosestellung, Prognoseeinschätzung und Therapieplanung von neuroonkologischen Patient*innen. Daher sollte dieser Eingriff nach Möglichkeit nicht verschoben werden. Während einer Pandemie ist es allerdings essenziell, die intensivmedizinischen Ressourcen nicht zu überfordern. Aus diesem Grund ist es empfehlenswert, je nach Auslastung der Intensivbetten die Operationsindikation zu stellen. Insbesondere bei Patient*innen unter 65 Jahren mit einem guten Karnofsky-Index (≥ 70 %) und operablem Tumor sollte eine möglichst rasche, maximale Resektion angestrebt werden.
Bei älteren Patient*innen mit einem schlechten Karnofsky-Index (< 70 %) ist es wahrscheinlicher, dass postoperativ längere intensivmedizinische Maßnahmen erforderlich sind. Daher sollte bei dieser Patient*innen-Gruppe je nach aktueller Auslastung der Ressourcen durch COVID-19 Patient*innen in einer individuellen Entscheidung die Indikation bzw. der optimale Zeitpunkt einer Operation eingeschätzt werden. Im Einzelfall ist im Neuroonkologie-Tumorboard auch eine Entscheidung für ein primär palliativ-supportives Vorgehen denkbar
.

Möglicherweise ist es auch erforderlich, OP-Zeiten zu verkürzen oder auf zusätzliche Techniken (z. B. fMRT, Wachkraniotomie) zu verzichten, wenn personelle Ressourcen knapp werden. In diesem Fall könnte nach Stabilisierung der COVID-Situation bzw. der verfügbaren Ressourcen eventuell auch in einem zweiten Schritt die Optimierung des neurochirurgischen Ergebnisses angestrebt werden.

Anzumerken ist, dass die Histologiegewinnung in den allermeisten Fällen zur adjuvanten Therapieplanung erforderlich ist, sodass nach Möglichkeit ein Großteil der Patient*innen einer Operation zugeführt werden sollte.

Strahlentherapie
Die Standardtherapie besteht aus 30 Einzelbestrahlungen des erweiterten Tumorfeldes mit 2 Gray über einen Zeitraum von 6 Wochen (GHD 60 Gray). Während der COVID-19-Pandemie kann es zu ungeplanten Unterbrechungen kommen. Es gibt aus der Literatur jedoch Hinweise, dass sich eine Unterbrechung der Radiotherapie ungünstig auf die Wirksamkeit der Radiotherapie auswirkt. Nach Möglichkeit sollte daher diese Behandlung – insbesondere bei Patient*innen mit guten prognostischen Faktoren – vollständig und durchgehend appliziert werden. In einer prospektiven Studie von Roa et al.2 bei Glioblastompatient*innen älter als 60 Jahre zeigte sich kein Unterschied beim Gesamtüberleben zwischen der Standarddosis mit 60 Gy und einem hypofraktionierten Regime (40 Gy in 15 Fraktionen). Ähnliche Erkenntnisse lieferte das Perry-Schema (40 Gy in 15 Fraktionen + Temozolomid).3 Bei einem hohen Infektionsrisiko könnten daher ältere Patient*innen mit schlechterem Karnofsky-Index (< 70 %) eine Hypofraktionierung (40 Gy in 15 Fraktionen) erhalten, um die Zahl der Krankenhauskontakte und das damit verbundene Expositionsrisiko gering zu halten.

Systemische Therapie
Im Rahmen einer Temozolomid-Chemotherapie tritt mitunter ausgeprägte Toxizität – insbesondere Blutbildveränderungen wie eine Leukozytopenie, Lymphopenie oder Thrombopenie – auf.

Als Folge dieser Nebenwirkungen ist diese Patient*innen-Gruppe immunsupprimiert und dadurch besonders gefährdet, einen schweren Verlauf einer SARS-CoV-2-Infektion mit erhöhter Mortalität zu erleiden. Zudem benötigen Patient*innen im Verlauf einer Chemotherapie engmaschige Laborkontrollen. Diese Kontrollen können die Zahl der klinischen Kontakte – und damit auch das SARS-CoV-2-Expositionsrisiko – deutlich erhöhen.
Es muss daher die Verlängerung des Gesamtüberlebens durch die zusätzliche Gabe einer konkomitanten und/oder adjuvanten Chemotherapie gegenüber dem Risiko einer potenziell lebensbedrohlichen COVID-19-Infektion abgewogen werden.
Insbesondere bei MGMT-unmethylierten Patient*innen ist allenfalls nur ein geringer Nutzen zu erwarten, sodass in dieser Patient*innen-Gruppe, insbesondere im höheren Alter und bei schlechtem Performance-Status, eine alleinige Strahlentherapie empfohlen wird. Bei älteren Patient*innen mit einem MGMT-methylierten Gliom ist eine Temozolomid-Monotherapie eine Option.
Die aktuelle Therapieempfehlung für Patient*innen mit einem 1p/19q-kodeletierten Oligodendrogliom ist eine postoperative Strahlentherapie gefolgt von einer adjuvanten Verabreichung des PCV-Schemas (Procarbazin, CCNU und Vincristin). Um die Toxizität zu verringern und eine orale Einnahme zu Hause zu ermöglichen, sind mögliche Alternativen ein Wechsel auf Temozolomid oder das Weglassen von Vincristin.
Allerdings können sowohl CCNU als auch Procarbazin eine pulmonale Fibrose verursachen. Diese sehr seltene Nebenwirkung sollte ebenso in die Nutzen-Risiko-Abwägung und letztendlich Entscheidungsfindung einfließen. Aus demselben Grund sollte derzeit vom sogenannten CeTeG-Schema
4, also der zusätzlichen Gabe von CCNU zu Temozolomid bei MGMT-methylierten Glioblastom-Patient*innen, auf Grund der deutlich höheren Hämatotoxizität abgesehen werden.

Risikofaktoren
Mittlerweile sind einige Risikofaktoren für einen schweren COVID-19-Verlauf bekannt (z. B. Alter > 60 Jahre, Vorerkrankungen wie arterielle Hypertonie oder Diabetes mellitus, erhöhtes Interleukin 6, Procalcitonin und erhöhter  D-Dimer). Kürzlich wurde eine Studie zu Risikofaktoren bei onkologischen Patient*innen veröffentlicht. In einer multizentrischen retrospektiven Studie wurden onkologische Patient*innen mit soliden und hämatologischen Tumoren evaluiert, welche während der ersten Welle der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 in Wuhan (China) positiv auf das Virus getestet wurden. Diese Patient*innen-Gruppe wurde im Verhältnis 1 : 2 mit altersgematchten COVID-19-positiven Patient*innen ohne onkologische Vorerkrankung verglichen. Insgesamt konnten 529 Patient*innen eingeschlossen werden. Es zeigte sich, dass onkologische Patient*innen signifikant häufiger einen schwereren Verlauf aufwiesen als Patient*innen ohne onkologische Vorerkrankung. Die oben genannten Risikofaktoren änderten sich nicht. Zusätzliche prognostisch negative Faktoren waren bei den onkologischen Patient*innen ein fortgeschrittenes Tumorstadium, ein erhöhtes TNF-α bzw. NT-PRO-BNP, reduzierte CD4-T-Zellen und eine reduzierte Albumin-Globulin-Ratio.5

Persönliche Kontakte
Im Rahmen der Therapieplanung ist es bei allen Entscheidungsprozessen aber unerlässlich, die Patienten und die Angehörigen miteinzubeziehen („Shared Decision Making“).

Hirntumor-Patient*innen benötigen regelmäßige und engmaschige klinische und bildgebende Verlaufskontrollen zur Einschätzung des Verlaufes der Tumorerkrankung (z. B. neurologische Symptome, Kognition, Therapienebenwirkungen). Zusätzlich sind informierende und entlastende Gespräche entsprechend dem biopsychosozialen Modell mit den Patient*innen und deren An-/Zugehörigen sehr wichtig (z. B. Sorgen bezüglich der COVID-19-Pandemie).

Da Angehörigenbesuche derzeit nur eingeschränkt möglich sind, stellt sich möglicherweise die Problematik, dass es – insbesondere bei kognitiv eingeschränkten Patient*innen – zum Auftreten von Kommunikationsproblemen mit fehlerhafter Informationsweitergabe und Unsicherheit kommen kann. Um klinische Kontakte im Krankenhaus zu reduzieren, aber eine persönliche Kommunikation zu ermöglichen, könnten auch alternative Informationskanäle wie Video- oder Telefonanrufe genützt werden.

„Two week wait referral pathway
Eine Studie aus England zeigte, dass nach der Ankündigung der Lockdown-Maßnahmen am 23. 03. 2020 die Zuweisung eines*einer Patienten*Patientin mit „Red-Flag-Symptomen“, welche hinweisend auf einen Tumor sein könnten, über den*die Hausarzt*Hausärztin zum*zur Spezialisten*Spezialistin um 84 % abgenommen haben (sogenannter „two week wait referral pathway“). Mittels dieses Pathways wurde ein statistisches Model geformt. Dieses zeigte, dass bei Hirntumor-Patient*innen, die eine 2-monatige Verzögerung ihrer Diagnostik bzw. Behandlung erfahren hatten, es insgesamt zu einer Einbuße von 324 Lebensjahren kam.6

Somit sollten alle MRT-Kontrollen nach Möglichkeit wie geplant durchgeführt werden, um ein Tumorrezidiv bzw. eine Tumorprogression möglichst frühzeitig erkennen zu können. Allerdings kann es insbesondere bei schon länger stabilen IDH-mutierten Gliomen sinnvoll sein, die Intervalle etwas auszudehnen.

Steroide nur nach strenger Indikationsstellung
Viele Patient*innen benötigen im Krankheitsverlauf immer wieder Steroide. Diese sollten allerdings auf Grund der immunsuppressiven Wirkung nur nach strenger Indikationsstellung bei klinischen Verschlechterungen (z. B. tumorassoziiertes perifokales Hirnödem) in möglichst niedriger Dosis und so kurz wie möglich verabreicht werden. Typische Kortison-Nebenwirkungen sind eine arterielle Hypertonie bzw. ein steroidassoziierter Diabetes mellitus. Da es sich hier um relevante COVID-19-Risikofaktoren handelt, sollten diese Nebenwirkungen regelmäßig überwacht und gegebenenfalls behandelt werden.

Keine allgemeinen Empfehlungen bei SARS-CoV-2-positiven Gliompatient*innen
Bezüglich SARS-CoV-2-positiven Gliompatient*innen können keine generellen Empfehlungen gegeben werden. Je nach den vorhandenen medizinischen Ressourcen ist theoretisch bei asymptomatischen Patient*innen unter entsprechenden COVID-19-Schutzmaßnahmen die Fortführung einer Strahlentherapie anzudenken.

Auf die Durchführung einer Antitumortherapie mit klassischen alkylierenden Substanzen sollte bis zum vollständigen Abklingen der Erkrankung (inklusive negativer Virusstatus) verzichtet werden. Nach dem Abklingen der COVID-19-Infektion sollte die Therapie jedenfalls rasch fortgeführt werden.

Schlussfolgerung
Neuroonkologische Patient*innen sind während der SARS-CoV-2-Pandemie eine besonders vulnerable Patient*innen-Gruppe. Hier sind insbesondere regelmäßige und engmaschige notwendige Arzt*Ärztin-Patient*innen-Kontakte sowie eingeschränkte Immunabwehrmechanismen als Folge der Chemotherapie und/oder Cortisontherapie zu nennen.

Es sollte das Ziel sein, möglichst allen Patient*innen eine optimale leitliniengerechte Therapie anbieten zu können. Je nach der Auslastung der Betten- und Personalkapazitäten im Krankenhaussektor können aber Einschränkungen im Rahmen der COVID-19-Pandemie erforderlich sein. Eine Tumorresektion sollte zur raschen Histologiegewinnung immer angestrebt werden. Zur Schonung der Intensivbetten könnte es aber erforderlich werden, junge Patient*innen mit gutem klinischem Zustand zu bevorzugen. Ebenfalls kann eine Anwendung von kürzeren hypofraktionierten Bestrahlungsregimen – insbesondere bei älteren Patient*innen mit schlechtem klinisch-neurologischem Zustand – angedacht werden. Insbesondere bei MGMT-unmethylierten Gliomen sollte die Therapie mit einer alkylierenden Chemotherapie auf Grund der zu erwartenden Toxizität bei gleichzeitig eingeschränkter Wirksamkeit einer strengen Nutzen-Risiko-Einschätzung unterliegen und intensiv mit den Patient*innen und deren Angehörigen diskutiert werden. Sowohl zur Ermöglichung einer interdisziplinären Falldiskussion als auch zum engmaschigen Patient*innen-Kontakt können alternative Kommunikationskanäle über Telefonie oder Videokonferenzsysteme eine wertvolle Option darstellen.

1 Bernhardt D, Wick W, Weiss SE et al., Neuro-oncology management during the COVID-19 pandemic with a focus on WHO grades III and IV gliomas. Neuro-Oncol 2020; 22(7):928–935

2 Roa W, Kepka L, Kumar N et al., International atomic energy agency randomized phase III study of radiation therapy in elderly and/or frail patients with newly diagnosed glioblastoma multiforme. J Clin Oncol 2015; 33(35):4145–4150

3 James R PerryNormand LaperriereChristopher J O’Callaghan et al., Short-Course Radiation plus Temozolomide in Elderly Patients with Glioblastoma N Engl J Med 2017; 376(11):1027–1037

4 Herrlinger U, Tzaridis T, Mack F et al., Neurooncology Working Group of the German Cancer Society. Lomustine-temozolomide combination therapy versus standard temozolomide therapy in patients with newly diagnosed glioblastoma with methylated MGMT promoter (CeTeG/NOA-09): a randomised, open-label, phase 3 trial. Lancet 2019; 393(10172):678–688

5 Tian J, Yuan X, Xiao J, Zhong Q, Yang C et al., Clinical characteristics and risk factors associated with COVID-19 disease severity in patients with cancer in Wuhan, China: a multicentre, retrospective, cohort study. Lancet Oncol 2020; 21(7):893–903

6 Amit SudBethany TorrMichael E JonesJohn Broggio et al., Effect of delays in the 2-week-wait cancer referral pathway during the COVID-19 pandemic on cancer survival in the UK: a modelling study Lancet Oncol 2020; 21(8):1035–1044