World Brain Day: Altersbedingte Hirnveränderungen: Wie sich kognitive Defizite vermeiden oder verzögern lassen

Statement Univ.-Prof. Dr. Reinhold Schmidt, Präsident Past der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN); Leiter der Klinischen Abteilung für Neurogeriatrie, 1. Stv. Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie, Graz

Das Erreichen eines höheren oder hohen Alters wird gemeinhin oft mit Hinfälligkeit und Defiziten gleichgesetzt, insbesondere auch, was die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns betrifft. Doch die Annahme, Demenz sei eine unvermeidliche Folge des Alters, ist schlichtweg falsch: Die Hälfte der Menschen im Alter von 90 Jahren haben keine Gedächtnisstörungen. Im Detail zu verstehen, warum das so ist und welche Personen vor einem Abbau der kognitiven Leistungsfähigkeit eher geschützt sind als andere ist schon angesichts der demographischen Entwicklung ein wichtiges Ziel. Dies auch deshalb, weil solche Erkenntnisse die Basis für gezielte Prävention bieten können.

Wie andere Forschergruppen in aller Welt beschäftigen wir uns in Graz intensiv mit der Untersuchung von Faktoren, welche die Hirnalterung und ihre Folgen – wie eben den Abbau intellektueller Fähigkeiten – beeinflussen.

Epidemische“ Verbreitung von altersbedingten Veränderungen im Gehirn ab 60

Ein wichtiger Befund ist, dass durch Kleingefäßerkrankung bedingte Hirnveränderungen, aber auch Alzheimerpathologie, bei Personen über dem 60. Lebensjahr gehäuft auftreten. Bei mehr als 90 Prozent der Über-90jährigen sind altersbedingte Veränderungen der weißen Hirnmasse („white matter leasions“, WML) zu beobachten, in der Altersgruppe zwischen 45 und 75 Jahren immerhin auch schon bei 67 Prozent. Etwa die Hälfte aller 50jährigen weist Alzheimerpathologie in bestimmten Hirnarealen (entorhinale Hirnrinde) auf.

Studien mit moderner Neuro-Bildgebung zeigen ebenso wie pathologische Studien, dass im alternden Gehirn eine sehr komplexe Interaktion von degenerativen und vaskulären Prozessen stattfindet. Sie verstärken einander und potenzieren das Risiko für kognitiven Abbau, wenn sie gemeinsam auftreten. Finden sich beispielsweise im Gehirn zugleich Alzheimerpathologie und Infarktareale, ist das Demenzrisiko gegenüber Menschen ohne solche Veränderungen sechsfach erhöht. Bei einem gemeinsamen Vorliegen von Alzheimer-typischen pathologischen Veränderungen und Lewy-Körperchen (Lewy bodies, LB), also Einschlüssen im Gehirn, die typisch für die neurodegenerativen Prozesse bei Parkinson sind, um das zehnfache. Bei einer Vergesellschaftung von LB-Pathologie, Alzheimer-Pathologie und Infarkt schließlich steigt das Demenzrisiko auf das 16fache.

So verändert sich die Kognition mit dem Alter

Wenn derartige Läsionen im Gehirn derart häufig auftreten, ist die Frage, welche Auswirkungen sie auf die kognitiven Fähigkeiten haben, natürlich von besonderer Relevanz. Studien zeigen, dass es bis zum etwa 60. Lebensjahr diesbezüglich kaum Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Menschen gibt. Stärkere Funktionsverluste sind zwischen 75 und 80 Jahren zu erwarten, erst mit 90 Jahren erreicht der kognitive Funktionsverlust bis zu eine Standardabweichung von der Gehirnleistung junger Menschen. Die Standardabweichung ist eine statistische Messgröße, die beschreibt, wie weit ein Messwert im Durchschnitt vom Mittelwert entfernt ist. Dann aber geht es mit den Gehirnfunktionen nicht notwendigerweise weiter rapide bergab: etwa die Hälfte aller 81jährigen hält ihren Leistungsstandard über weitere sieben Jahre unverändert.

Kompensationsmeister Gehirn

Eine der vielen faszinierenden Fähigkeiten unseres Gehirnes ist die sogenannte „Kognitive Reserve“, das ist seine Kapazität, Schädigungen zu kompensieren und die klinischen Auswirkungen von Erkrankungen nach Möglichkeit zu minimieren. Wollen wir kognitive Abbauprozesse im höheren Lebensalter günstig therapeutisch beeinflussen oder ihnen überhaupt wirksam vorbeugen, dann ist es entscheidend, jene Faktoren zu entschlüsseln, die genau diese kognitive Reserve erhöhen oder vermindern. Hier haben Studien einige interessante Möglichkeiten herausgefiltert, wie sich das Gehirn kognitiv fit halten lässt.

Sozialkontakte, Bewegung, Spielen und Musizieren: So bleibt das Gehirn aktiv

So zeigt sich etwa, dass negativer Stress, Einsamkeit und Depression, einzeln und erst recht gemeinsam auftretend, ebenso negativ auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten wirken wie vaskuläre Risikofaktoren (zum Beispiel Bluthochdruck, ungünstige Blutfett- und Blutzuckerwerte).

Wichtig ist es, das Gehirn mit neuen Reizen in Schwung zu halten. So verringert, wie eine im New England Journal of Medicine publizierte Studie zeigt, das häufige Spielen von Brettspielen das Demenzrisiko um 74 Prozent, intensives Lesen um 35 Prozent, das Spielen eines Musikinstruments um 69 Prozent und das Lösen von Kreuzworträtseln um 41 Prozent.

Hochinteressant sind auch die Ergebnisse der „Religious Orders Study“, in der über mehr als 20 Jahre lang rund 1.100 Priester, Mönche und Nonnen untersucht wurden. Bei einem gleichen Ausmaß an Alzheimer-typischen pathologischen Veränderungen im Gehirn, bauen Menschen kaum kognitive Fähigkeiten ab, wenn sie in soziale Netzwerke eingebunden sind, während Personen ohne soziale Vernetzung in Abhängigkeit der Menge an Pathologie auch kognitive Verschlechterungen aufwiesen. Diese Zusammenhänge sind auch im Tierexperiment nachweisbar. Wer also kontaktfreudig und sozial aktiv bleibt, hat die besseren Karten.

Eine wichtige Rolle für die Gehirngesundheit spielen auch Bewegung und gezieltes kognitives Training. Mehrmals wöchentliches körperliches und kognitives Training im mittleren Lebensalter kann dazu beitragen, den Demenzbeginn im Alter zu verzögern. Bei gesunden älteren Menschen oder Menschen mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung (mild cognitive impairment, MCI) – einem Stadium zwischen natürlichem Alterungsprozess und demenziellen Erkrankungen – sorgen regelmäßige physische Aktivität und kognitives Training für eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des Gehirns. Ob sie in dieser Gruppe auch zu einer Verzögerung des Demenzbeginns beitragen können, ist nicht bewiesen bzw. umstritten.

Multimodaler Ansatz erlaubt Verbesserungen der kognitiven Funktion

Kontrollierte Interventionsstudien wie FINGER (Finnish Geriatric Intervention Study to Prevent Cognitive Impairment and Disability) zeigen ähnliche Faktoren auf: Eine multimodale Intervention bestehend aus Ernährungsempfehlungen, regelmäßiger Bewegung, kognitivem Training und einer engmaschigen Kontrolle von vaskulären Risikofaktoren erwies sich in dieser Untersuchung als effektiv, um die kognitive Funktion von Menschen mit einem hohen Demenzrisiko zu erhalten oder zu verbessern. 

In der MAPT-Studie (Multidomain Approach for Preventing Alzheimer’s Disease) wurde der Effekt von Omega-3-Fettsäuren, allein oder in Kombination mit Ernährungsberatung, Bewegung und kognitivem Training untersucht. Die Kombination aller genannten Elemente konnte den kognitiven Abbau bei älteren Personen verlangsamen, insbesondere bei Menschen mit MCI.

Die Pre-DIVA-Studie (Prevention of Dementia by Intensive Vascular Care) zeigte einen positiven Effekt einer engmaschigen Kontrolle und Behandlung vaskulärer Risikofaktoren wie Bluthochdruck, hohe Blutfettwerte, Diabetes, Übergewicht, Rauchen, verbunden mit körperlichem Training, auf das Entwickeln einer Demenz.

Lesen Sie mehr über den Welttag des Gehirns 2016 (World Brain Day)

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